Wird der religiöse Glaube uns retten?

Bertrand Russell, Großbritannien (Aus "Moral und Politik", Fischerverl. S. 185)

 

Einer Theorie zufolge, die in der Welt immer mehr Anklang findet, sind die Übel, woran die Völker kranken, auf das Schwinden des religiösen Glaubens zurückzuführen. Ich halte gerade das Gegenteil dieser Theorie für richtig.

Im Jahre 1914 glaubten sich die Deutschen stark genug, sich gewaltsam ein Reich zu schaffen, das sich mit dem britischen, französischen und russischen messen konnte. England, Frankreich und Rußland schlössen sich zusammen, um diese Ambitionen zu vereiteln.

Rußland wurde geschlagen und gab in der Revolution 1917 seine traditionelle imperialistische Politik auf... Die Ursache des Konflikts war die Kollision der machtpolitischen Bestrebungen. Im Grunde ist Krieg kein Aufeinanderprallen von Glauben und Unglauben oder von zwei verschiedenen Glauben. Es war der Widerstreit zweier mächtiger Reiche, die beide eine Chance zu sehen glaubten, die Weltherrschaft an sich zu reißen.

Kein Mensch kann behaupten, der I. Weltkrieg sei mehr oder minder darauf zurückzufuhren, daß es den Herrschenden, die ihn anzettelten, an christlichem Glauben gefehlt habe. Der Zar, der deutsche Kaiser und der Kaiser von Österreich waren alle ernsthafte Christen. Auch Sir Edward Grey und Präsident Wilson Nichtchristlich war damals nur ein einziger prominenter Politiker, der Sozialist Jean Jaurès, der den Krieg bekämpfte und zur Genugtuung fast aller christlichen Franzosen ermordet wurde. In England waren John Bums und der alte, als Atheist bekannte Lord Morley die einzigen Kabinettsmitglieder, die zurücktraten, weil sie den Krieg mißbilligten.

In Deutschland ging ebenfalls die einzige Opposition von den Atheisten unter der Führung von Liebknecht aus. Als in Rußland die Atheisten ans Ruder kamen, war es ihr erstes, Frieden zu schließen. Die Bolschewisten blieben freilich nicht friedlich, was aber nicht weiter verwunderlich ist angesichts der Tatsache, daß sie von allen christlichen Siegermächten angefeindet wurden....

Die Christern sind der Überzeugung, ihr Glaube wirke Gutes, jeder andere Glaube dagegen schade. Jedenfalls tut das nach ihrer Ansicht der kommunistische Glaube. Ich persönlich möchte sagen: Jeder Glaube schadet. Wir können den "Glauben" definieren als sicheres Überzeugtsein von etwas, wofür es keine Gewißheit gibt. Von Glauben sprechen wir nur, wenn wir die Gewißheit durch das Gefühl ersetzen wollen. Die Ersetzung der Gewißheit durch das Gefühl führt leicht zu Auseinandersetzungen, da verschiedene Gruppen unterschiedliche Gefühle als Ersatz nehmen. Die Christen glauben an die Auferstehung, die Kommunisten an die marxistische Werttheorie. Keiner der beiden Glauben läßt sich mit Vernunft begründen; folglich wird jeder durch Propaganda und nötigenfalls durch Krieg verteidigt. In dieser Beziehung sind beide gleich. Wo man die Macht in Händen hält, bringt man dieses Etwas dem unreifen Geist der Kinder bei und verbrennt oder verbietet Bücher, die das Gegenteil lehren. Wo man nicht die Macht hat, wird man bewaffnete Streitkräfte zu Eroberungszwecken aufstellen. Das alles ist die unvermeidliche Folge eines festen Glaubens, es sei denn, man begnügt sich wie die Quäker damit, stets in einer winzigen Minderheit zu sein.

Es ist mir völlig rätselhaft, wie anscheinend geistig normale Menschen der Meinung sein könnten, der Glaube an das Christentum vermöchte einen Krieg zu verhindern. Der römische Staat wurde zur Zeit Konstantins christlich und befand sich bis zu seinem Untergang fast dauernd im Kriegszustand. Die christlichen Staaten, die ihn ablösten, bekämpften einander unentwegt, wenn sie auch ab und an, was ich gar nicht bestreiten will, nichtchristliche Staaten bekriegten. Von der Zeit Konstantins bis zur Gegenwart findet sich in der Geschichte auch nicht die Spur eines Beweises dafür, daß christliche Staaten weniger kriegerisch sind als andere.

Ja, einige der erbittertsten Kriege waren das Ergebnis von Auseinandersetzungen über verschiedene Arten des Christentums. Manche Leute wollen einem weismachen, das Christentum sei, wenn auch vielleicht nicht wahr, so doch nützlich, weil es den sozialen Zusammenhalt fördere; wenn es auch nicht vollkommen sei, so sei es doch besser als jeder andere Glaube von gleicher Wirksamkeit. Ich kann aber beim besten Willen nicht zugeben, daß sozialer Zusammenhalt nur mit Hilfe von Zwecklügen möglich sein soll.

Ich weiß sehr wohl, daß diese Anschauung von Platon und einer langen Reihe praktischer Politiker sanktioniert worden ist, halte sie aber selbst vom praktischen Standpunkt für falsch. Notwendig ist sie für einen Kreuzzug, aber ich kann mich an keinen Fall erinnern, wo ein Kreuzzug zu etwas Gutem geführt hätte. Wenn die Menschen das Christentum als Teil der Wiederaufrüstung betrachten, so berauben sie es jedes spirituellen Verdienstes. Und um als Wiederaufrüstung wirksam zu sein, muß es nach allgemeiner Auffassung streitbar, dogmatisch und engherzig sein.

Die Durchschlagskraft eines Glaubens beruht im Krieg auf seinem negativen Aspekt, auf seinem Haß gegen diejenigen, die ihn nicht teilen. Ohne diesen Haß ist er für kriegerische Zwecke nicht verwendbar. Wenn zwei Glaubensrichtungen einander bekämpfen, zeigt sich daher jede von ihrer schlimmsten Seite.

In den ersten Kämpfen zwischen Christen und Mohammedanern waren die Christen fanatisch und die Mohammedaner erfolgreich. Die christliche Propaganda hat allerlei Geschichten über die mohammedanische Intoleranz erfunden, die aber in bezug auf die ersten Jahrhunderte des Islam grundfalsch sind.

Später wurde dann Spanien durch fanatischen Haß auf die Juden und Mauren zugrundegerichtet; Frankreich verarmte schrecklich durch die Hugenottenverfolgung, und eine der Hauptursachen von Hitlers Niederlage war, daß er versäumte, die Juden an der Atomforschung mitarbeiten zu lassen.

Philipp II. von Spanien war so davon überzeugt, daß der Himmel seinen Krieg gegen die Ketzer segnen müsse, daß er ganz versäumte, sich zu überlegen, daß es einen großen Unterschied bedeutete, ob man gegen Engländer oder gegen Türken kämpfte, und so wurde er geschlagen.

Irgendein Teil seines Ichs muß ja doch schließlich merken, daß es sich um Mythen handelt und daß er sie nur glaubt, weil sie tröstlich sind. Weil er diesem Gedanken aber ausweicht, kommt er mit seinen Überlegungen nicht zu einem logischen Schluß. Außerdem wird er wütend, wenn man seine Ansichten anzweifelt, weil er selbst irgendwie das dunkle Gefühl hat, daß sie nicht vernünftig sind.

Ich glaube nicht daran, daß das Schwinden des Dogmaglaubens sich nur zum Schlechten auswirken kann.

Was die Welt braucht, ist nicht das Dogma, sondern die Haltung wissenschaftlicher Untersuchung , gepaart mit der Überzeugung, dass die Marterung von Millionen kein erstrebenswertes Ziel ist, mag sie von Stalin verhängt werden oder von einem göttlichen Wesen , dem der Gläubige die Züge seines eigenen Bildes verleiht..